Die Internationalisierung der Spieleindustrie oder: Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben

von Mr Creosote (16.02.2013)

Aus der Perspektive eines Bewohners von Westeuropa erscheint die Welt sehr „globalisiert“. Zumindest, bis man genauer darüber nachdenkt, denn dann fällt einem auf, dass das, was man als „global“ empfindet nichts anderes ist als eine nordamerikanische Vormacht in den meisten Bereichen der Populärkultur. Interesse, mal wieder ins Kino zu gehen? Da hat man ja die breite Auswahl zwischen… ein paar Hollywoodproduktionen. Und im Internet? Höchstwahrscheinlich besucht man dort eine Seite, die aus den USA betrieben wird. Moment mal, das Bild ist auch anderweitig interessant – während die Beispielstaaten Westeuropas eben diese klare Dominanz von US-Webseiten aufweisen, sieht es in Russland und China völlig anders aus. Keine Spur der Globalisierung. Ohne jetzt in die Zensurdiskussion einsteigen zu wollen, ist die Welt wohl doch nicht ganz so homogen, wie sie aus europäischer Sicht scheinen mag. Und bei Filmen sieht es tatsächlich nicht unähnlich aus: Das weltweit fleißigste Produktionsland ist Indien, nur hat es international lange nicht die Strahlkraft der US-Produktionen. Was nun das Russland/China/Indien der Spieleindustrie ist, ist zwar eine interessante Frage, aber eine für einen anderen Artikel. Hier soll es stattdessen um die Frage gehen, wann, wie und warum Westeuropa seine eigene Spieleindustrie eingebüßt hat.

Die Computer-Monokultur

Betrachten wir zuerst die globalen (d.h. weltweiten) Marktanteile verschiedener Computersysteme:

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Das Schaubild zeigt die Verkaufszahlen (Quelle) verschiedener Systeme in Einheiten von Tausend. „PC“ umfasst sämtliche „IBM-PC-kompatiblen“ Computer. Sieht bereits recht einseitig aus, aber man muss dabei zwei Dinge bedenken:

1. Die geographische Verteilung des Marktanteils zwischen Nordamerika und Westeuropa.

2. Da wir uns hier auf der Seite primär mit Spielen beschäftigen, der Zweck des gekauften Computers.

In umgekehrter Reihenfolge betrachtet, stellt man als Erstes fest, dass IBM PCs seit ihrer Einführung den geschäftlichen Markt dominierten. Andere Computer fanden sich dagegen primär bei den Kunden zu Hause (deshalb der in den 1980er Jahre verwendete Begriff „Heimcomputer“). Entsprechend mss man das Marktanteildiagramm normalisieren. Nimmt man eine initiale Verteilung von 90% geschäftlicher gegenüber 10% privater Käufer für den IBM PC im Jahr 1984 an und legt einen großzügige Zuname letzteren Anteils von fünf Prozenzpunkten jährlich zu Grunde (d.h. 15% privater Käufer 1985, 20% privater Käufer 1986 usw.) und sieht man den Anteil geschäftlicher Käufer für andere Systeme als vernachlässigbar an (für den C64 wohl nicht ganz richtig, aber sein Marktanteil war zu der Zeit bereits insgesamt am Abnehmen), kommt man zum folgenden Schaubild, das schon eine etwas heterogenere Welt zeigt:

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Nun muss man leider ins die Welt des Hörensagens und der Spekulation hinabsteigen. Trotzdem wird kaum Jemand bestreiten, dass nach dem C64 in Nordamerika direkt die IBM-kompatiblen Rechner folgten, während man in Westeuropa noch einen Zwischenschritt (bestimmt von Atari und Commodore) machte. Der örtliche Marktanteil der Computer, die zu Hause benutzt wurden, sah völlig anders aus; anders gesagt: Niemand in Europa hatte in den 1980er Jahren einen IBM, um damit Spiele zu spielen.

Zusätzlich in Betracht ziehen muss man in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Wortes „Marktanteil“. Dieser stellt die Verteilung der Verkäufe in einem vorgegebenen Zeitraum dar. Was natürlich signifikant, aber nicht gleichbedeutend mit der benutzten Gerätebasis ist.

Käufe und Verkäufe von Computern zum Büroeinsatz werden in ihrer Frequenz primär durch das Steuerrecht getrieben. Sobald die Geräte steuerlich abgesetzt sind, werden neue angeschafft. Bei einem Computer zum Privatgebrauch ist das anders: Solange man für einen solchen Verwendung hat, behält man ihn. Das noch bis weit in die 1990er Jahre blühende Softwaregeschäft für viele scheinbar „überholte“ Computersysteme zeigte, dass dieser Zeitraum länger war, als in der Geschäftswelt üblich.

Nimmt man eine durchschnittliche Lebenszeit eines geschäftlich genutzten Computers mit drei Jahren und die eines Heimcomputers mit sechs Jahren an und kombiniert dies mit der bereits erläuterten Aufteilung des IBM-Marktes in privat und geschäftlich genutzte Computer, bekommt man eine neue Verteilung, die die aktive Nutzerschaft jedes Systems pro Jahr zeigt.

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Was soll uns das alles sagen? Bis in die frühen 1990er Jahre war die Nutzerbasis des C64 immer noch von signifikanter Größe! Doch einen entsprechend erfolgreichen Nachfolger gab es einfach nicht mehr. Amiga und ST, die heutzutage häufig als reine 1980er-Jahre-Maschinen abgetan werden, waren zu dieser Zeit sogar noch auf einem gesunden Wachstumskurs. Nur dass dieses Wachstum global gesehen von einer regelrechten Explosion im IBM-Bereich überschattet wurde.

Der Konsolenmarkt

Natürlich machten Heimcomputer immer nur einen Teil des Gesamtbilds aus. Während Europäer ihre C64er und Spectrums mit Amigas und Ataris ersetzten, unterschieden Amerikaner strikter zwischen Spaß und Pflicht und stellten sich so IBM-kompatible in ihre Büros und japanische Spielkonsolen in ihre Wohnungen. Der Unterschied der Gesamtverkaufszahlen (in Millionen) der in der betrachteten Zeit relevanten Konsolensysteme zwischen Europa und Nordamerika fällt sofort ins Auge (Quelle):

NordamerikaEuropa
Game Boy43.1840.05
NES33.498.30
SNES22.888.15
Mega Drive15.988.39

Die Verkaufszahlen des Game Boy zeigen, dass der Gesamtumfang der beiden Märkte sich in etwa entsprach. Insbesondere das NES war in Nordamerika ein riesiger Erfolg, in Europa blieb es vergleichsweise eine Randerscheinung. Die Verkaufszahlen der erfolgreichsten Spiele dieses Systems sprechen eine noch deutlichere Sprache (Quelle):

NordamerikaEuropa
Super Mario Bros.29.083.58
Duck Hunt26.930.63
Super Mario Bros. 39.543.44
Super Mario Bros. 25.391.18
The Legend of Zelda3.740.93

Warum wurde ausgerechnet der Game Boy weltweit erfolgreich? Anders als die stationären Konsolen bot er auch Besitzern eines Heimcomputers, die absolut spielefähig waren, etwas Zusätzliches: die Mobilität. Der Game Boy war einfach das erste mobile Spielsystem mit austauschbaren Spielemodulen, das eine vernünftige Batterielebensdauer aufwies, so dass man es wirklich als „mobil“ bezeichnen konnte – im Gegensatz zu Ataris Lynx oder Segas Game Gear, die beide nicht nur rein physikalisch klobiger daherkamen (insbesondere das erste Lynx) und kaum eine durchschnittliche Zugfahrt durchhielten. Der Game Boy war also sowohl für Besitzer einer Konsole, als auf die eines Heimcomputers interessant.

Auswirkungen

…auf den Markt

Europäische Entwickler produzierten Spiele für die Systeme, die in ihrer jeweiligen Heimat das Bild bestimmten. Weltweit wurden diese Systeme jedoch schließlich überrollt und verschwanden – der Kollaps des Heimcomputermarktes bedeutete das Ende für viele kleine Entwicklungsschmieden, da diese einfach auf die falschen Pferde gesetzt hatten.

Gerade mal zwei große europäische Spielepublisher haben bis heute überlebt: Infogrames (unter dem eingekauften Namen Atari) und Ubi Soft. Europäisch sind sie jedoch nur noch dem Namen nach (nicht mal mehr das im Falle „Ataris“); ihre Spiele sind längst „amerikanisiert“.

…auf Spielegenres

Dadurch gingen gleich mehrere Dinge verloren. Amerikanische Firmen waren schon früh für ihre professionellen Strukturen bekannt. Auf dem Konsolenmarkt war das ohnehin eine Voraussetzung, da es sich um geschlossene Plattformen handelte: Um technisch und rechtlich überhaupt die Voraussetzungen zu erfüllen, auf diesen Systemen entwickeln zu können, war die Einstiegshürde bereits recht hoch. Auf Heimcomputern galt genau das Gegenteil: Die Trennung zwischen Benutzern und Entwicklern existierte praktisch nicht. Die zur Entwicklung notwendige Hardware war die gleiche, wie fürs Spielen; man konnte ohne weiteren Aufwand direkt zum Entwickler werden – es blieb nur der Schritt der Vermarktung der eigenen Software zu vollziehen.

Entsprechend kam bis Anfang der 90er Jahre Europas Spieleproduktion hauptsächlich von kleinen unabhängigen Entwicklern. Viele davon waren technisch brilliant, sie trieben die Computer auf immer neue grafische und klangliche Höhen. In der neuen IBM-zentrischen Welt zählten jedoch andere Qualitäten – es war plötzlich weniger die Spielidee, als vielmehr der Umfang der Produktion. Das Niedrigpreissegment verschwand völlig vom Markt. Die Produktionen wurden immer größer und größer, so dass kleinere Teams einfach nicht mehr mithalten konnten. Also wurden sie plattgemacht. Wodurch die Monokultur gleich doppelt bestärkt wurde.

…auf die Geschichtswahrnehmung

Prinzipiell ist Konsolidierung auf einem noch recht jungen Markt nichts Außergewöhnliches. Eine sehr unschöne Auswirkung zeigt sich jedoch im heutigen Internet: Es gibt zwar neben dieser noch zahlreiche andere Seiten, die die Historie der Spiele zu dokumentieren und am Leben zu halten versuchen, aber das Gesamtbild stellt sich recht verzerrt dar.

Wie war das auf dieser Weltkarte eingangs? Europäer informieren sich fast ausschließlich aus amerikanischen Quellen. Sie dokumentieren und erforschen ihre eigene Geschichte nicht. Und selbst wenn sie das versuchen, dann ist es dadurch zum Scheitern verurteilt, weil die jüngeren Europäer den amerikanischen Seiten den Vorzug geben. Dort erwarten sie gefühlte hundert Vergleiche zwischen Double Dragon und Streets of Rage (zwei in Nordamerika überaus beliebte Spiele), aber Firmen wie beispielsweise Graftgold werden kaum einer Fußnote gewürdigt. Sie übernehmen sogar Bezeichnungen wie Genesis in ihren eigenen Sprachgebrauch, obwohl diese Konsole niemals unter diesem Namen hier zu haben war.

Doch es ist eben nicht nur die jüngere Generation, sondern sogar Veteranen, die es eigentlich besser wissen sollten, stimmen in den Chor mit ein. Was bedeutet es, wenn Deutschlands ehemals führende Spielejournalisten laut verkünden, man hätte bereits in den 80er Jahren besser „japanisch spielen“ sollen, da die durchschnittliche Qualität der Spiele auf diesen Konsolen so viel besser war, als auf den Heimcomputern? Wenn selbst sie es so sehen, muss da dann nicht etwas dran sein?

Das Problem mit einer solchen Aussage ist einfach, dass sie sich ebenfalls erstmal auf nur ganz wenige Genres bezieht: Vielleicht stimmt sie bezüglich Ballerspielen und Jump'n'Runs. Der Heimcomputermarkt bot jedoch viel, viel mehr. Klar, die Durchschnittsqualität war auf dem eng kontrollierten Konsolenmarkt eventuell höher – aber gab es auch die interessanten spielerischen Experimente? Die abwechslungsreichen Genremischungen?

Wie so oft entwickelt es sich zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Worüber es bereits viele Informationen gibt, wird es mit der Zeit immer noch mehr, da Internetquellen es an sich haben, sich gegenseitig inhaltlich zu replizieren. Die Dinge dagegen, die nur selten Erwähnung finden, verschwinden langsam völlig von der Bildfläche, weil sie nicht mehr als „repräsentativ“ oder „typisch“ angesehen werden von Leuten, die entweder nicht selbst in der damaligen Zeit zugegen waren oder sich einfach nicht mehr so genau erinnern. Selbst in anderen Mainstreammedien zeigt sich dies mittlerweile. Man denke beispielsweise an den Disneyfilm Ralph reichts, der sich selbst als Streifzug durch die Spielegeschichte feiern lässt, aber sie tatsächlich nur auf die üblichen Verdächtigen reduziert.

Die Spielegeschichte ist mehr als nur Mario, Sonic (und vielleicht Tetris) auf den Konsolen gefolgt von Echtzeitstrategie, „Ego-Shootern“ und Die Sims auf dem PC. Der vielleicht wichtigste Unterschied dazu, was ihm folgte, war, dass der Heimcomputermarkt lange nicht so formelhaft eingeengt war. Vielleicht war nicht alles so auf Hochglanz gebracht und von riesigem Umfang, vielleicht war man nicht so nah an der technischen Perfektion, aber dafür gab es eben öfter etwas wirklich Neues und Interessantes, da Überraschendes zu entdecken.

Ist die Welt noch zu retten?

Diese historische Schieflage korrigieren zu wollen, ist leider eine mehr als undankbare Aufgabe. Durch genau den gleichen Effekt des gesteigerten Interesses für die „Gewinner“ existiert kaum eine Zielgruppe für die Dokumentation (soll heißen: umfangreichere Dokumentation als Sammlung tausender Dateien in einem anonymen Torrent) der Geschichte der frühen Heimcomputer, da es kaum Jemandem bewusst zu sein scheint, dass es sich dabei überhaupt um ein eigenes Thema handelt.

Eine vielleicht gar nicht mal so schädliche Entwicklung seit den Anfängen dieser Seite liegt in der technischen Entwicklung begründet. Ende des letzten Jahrtausends befand man sich technologisch noch mitten in der MS-DOS-Monokultur (inkl. Windows 95/98/ME). Spiele, die als „nativ“ angesehen wurden, wurde überall der Vorzug gegeben; alles andere wurde als furchterregend kompliziert angesehen. Heutzutage ist durch Dosbox ohnehin alles und jedes Spiel zur Emulation geworden. Und ob man nun eine alte IBM-Maschine mit MS-DOS emuliert oder einen VC-20 ist technisch gesehen erstmal gleichwertig, sowohl bezüglich des Vorgangs, wie auch der benötigten technischen Expertise.

Tatsächlich liegt der gefühlte Unterschied also nur noch in der Wahrnehmung der Menschen, er ist also rein subjektiv geworden. Die Relevanz anderer kulturhistorischer Phänomene, die man nicht selbst durchlebt hat, kann man – wie an dem momentanen gesteigerten europäischen Interesse an vergangener US-Kultur zu sehen – durchaus zeigen. Das muss weder umgedreht, noch abgeschafft werden. Doch müsste es doch eigentlich noch genug Menschen in Europa geben, die sich noch daran erinnern können, wie die Dinge wirklich lagen, und die das einseitige Bild vervollständigen könnten. Diesen Menschen möchte ich sagen: Lasst uns unsere eigene Historie endlich zu einem relevanten Thema machen!

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